Gespräch mit Elisabeth Wandeler-Deck

Über Haiti und Piraten, Kathy Acker und die Lust an Topographien.

R.B. Mit «Piraten. Haitianische Topographien» erscheint dein mittlerweile viertes Prosawerk. Daneben hast du dir als Lyrikerin einen Namen gemacht und trittst als Musikerin auf. Woher kommt dein Schwimmen in so vielen Teichen? 
E.W.D. Ja, mich wunderts nicht, denn ich hatte doch schon mit Architektur einen Beruf gelernt, in welchem die verschiedensten Diszipline zusammenkommen, einander entgegenstehen und zusam-menwirken. Als ich mit meinem damaligen Mann aus Ostalgerien zurückkam, wo wir beide, er mehr, ich weniger, mit dem Bau von Dörfern befasst waren, und ich nur französisch las, und wir neuartige Filme aus USA und Indien in Kinos sahen, da hatten die Sechzigerjahre schon fünf Jahre gedauert, nach den Beatniks war der Freejazz, die psychodelische Musik, waren Cage und Perec da und Robbe-Grillet, es gab, dann, drei Jahre später, den Globus als Krawall und das Corbusier-Haus als Zentrum, beim Goldbrunnenplatz bot Hannes Bossert einen Ort, wo vieles entstand, wo ich einen ersten Ort, mit andern wie dem Musiker Stephan Wittwer, dem Dichter und Maler Anton Bruhin, dem Künstler und Glaziologen Andreas Züst fand, für Zeichnungen und Wörter und für meine Art zu schauen und zu denken. 
R.B. Das Lesen deiner Bücher ist ein Vergnügen und ziemlich aufregend, wenn man bereit ist, herkömmliche Lesegewohnheiten in Frage zu stellen und sich der Magie der Sprache zu überlassen. Denkst du an ein bestimmtes Publikum, wenn du am Schreiben bist? 
E.W.D. Ich denke an Menschen, an ihre Ohren und Augen und daran, die Sprache ins Rutschen zu bringen und dass man in der Sprache Welten entdecken kann, und dass das zu den frühesten Erfahrungen vieler gehört. Da meine ich für einmal gerade nicht, wovon Eltern immer wieder reden, nämlich, dass das Kind die ganze, immergleiche Geschichte einfordert, dass sie an der erzählten Geschichte nie auch nur ein einziges Wort ändern dürfen. 
R.B. Empfindest du die Art und Weise, wie du schreibend vorgehst, als eine Methode, die in der Literatur ihr ureigenstes Medium vorfindet, oder lässt du dich beim Schreiben von verwandten Medien inspirieren? 
E.W.D. Ich schreibe. Wenn ich schreibe, schreibe ich. Wie jetzt, da ich Antworten suche, indem ich schreibe. Wörter, Sätze, Absätze, Wörter, Namen. Das Nachdenken darüber, was passiert, wenn etwas auf etwas trifft – im Film trifft Einstellung auf Einstellung, auf die Töne des Redens, der Musik und Geräusche, in der frei improvisierten oder komponierten Musik treffen Klanggruppen aufeinander, auf Stille, Wörter treffen auf Töne und Klänge; in der Architektur trifft Raum auf Materie, auf Menschen – der Gegenstand setzt sich durch, Bedeutungen klingen an, entstehen, huschen vorbei, sind schon weg. Und schon wieder ereignet sich Aufregendes. 
R.B. Was fasziniert dich an Piraten? Und welches ist ihr Treiben in deinem neuen Buch? 
E.W.D. Schon im letzten Buch, dessen Text sich über den Mediterran spannte, gab es die Figur Michelemmà, deren Schicksal in rätselhafter Weise in einem alten napolitanischen Lied besungen wird. Geraubt von den Piraten oder Sarazenen ... 
Die Karibik als ein anderes Mittelmeer ist auch eines der Piraten, Freibeuter – Freie im Unterschied zu den Sklaven, auch zu den versklavten Seeleuten; zeitweise gaben sich die Besatzungen eigene Verfassungen, wählten ihren Kapitän oder ihre Kapitänin. Da trifft meine alte Liebe zu Seefahrergeschichten auf eine leidenschaftliche Suche nach, ja, wie sagt man, herrschaftsfreien Lebensformen ... die Schiffe brennen dennoch und die Piraten gehen unter, sie metzeln sich hin, wenn sie nicht hingemetzelt werden. Also lieber keine Piratenromantik, also lieber doch etwas Piratenromantik. Ja, sie treiben sich herum, auch metaphorisch, in der Rede zu Haiti, in Haiti als schweifender Rede, als jene, deren Schätze zu heben wären, was ja immer misslingt, so dass es weitergehen kann, das Erzählen und das Suchen danach. 
R.B. Was kann ich mir unter «Haitianische Topographien», dem Untertitel, vorstellen? 
E.W.D. In einer Querstrasse zur zürcherischen Langstrasse lese ich «Bar Haiti». In Loano an der Riviera del Ponente lese ich «Bar Haiti». Das ist eine zu simple Antwort. Europa als Subtext zu Haiti? Mag sein. Ich schreibe in meinem Buch einmal davon, dass ich die Karte von Haiti auf Transparentpapier übertrage und auf den Stadtplan von Zürich lege und dann schaue, wo sich die Orte, von welchen ich weiss, durch welche ich kam, wo ich mich aufhielt während eines Besuchs, in Zürich befinden. Die Topographie von Zürich anhand von Haiti angeschaut, und umgekehrt. Ich reise mit meinen eigenen Landschaften in anderen Landschaften. Textlandschaften, Erzählgegenden. 
R.B. Ich nehme an, dass du schon in Haiti warst? 
E.W.D. Mein Bruder lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Haiti. Ich habe ihn besucht. 
R.B. «Haiti» ist Sehnsuchtsmetapher für viele und erinnert gleichzeitig an dunkle Momente in der Geschichte dieses Inselstaates (Kolonialgeschichte, Diktatur etc.) Findet sich eine Auseinandersetzung damit in «Piraten»? 
E.W.D. «Piraten» ist kein historischer Roman, das nicht, das Buch erzählt nicht die Geschichte Haitis anhand seiner Figuren. Vielleicht lässt sich auch daher der Untertitel des Buchs verstehen: Topographien als Textlandschaft, in deren Gebieten sich auch die Geschichte Haitis Platz verschafft. Übrigens nahmen die Sklaven auf Haiti die Ideen der französischen Revolution ernst, seit 1804 ist es ein, wie man sagt, unabhängiger Staat. 
R.B. Wenn ich «Piraten» oder auch dein letztes Buch «Von einem Schiff zu singen» lese, erinnert mich die Lektüre immer wieder an Leseerlebnisse, die ich hatte, als ich vor zwanzig Jahren Cut-up-Texte von William S. Burroughs las. Heute sind das Klassiker. Gegen was schreibst du an? Was brichst du auf? Welches moralische Verhalten attackierst du? 
E.W.D. Ich nehme mir heraus weiterzuschreiben. Von einem Schreiben her, das mit Gertrude Stein und, sehr anders, mit James Joyce einsetzte, von Heissenbüttel im «Ouvroir de littérature potentielle Oulipo» weitererforscht wurde. Um von da her eine provisorische Leine auswerfen zu können. Einige tun dies, immer wieder. Und ich kenne keinen Poller, an dem sich die Leine definitiv festmachen könnte.
R.B. Ich kann es nicht lassen und muss dich, weil es letztendlich naheliegend ist, auf Kathy Acker ansprechen – 
www.fantasticfiction.co.uk/authors/Kathy–Acker.htm – nicht nur, weil eine deiner Figuren Kathy heisst.
E.W.D. Kathy Acker hatte gewiss von mir nicht gewusst, auch wenn ich in N.Y. an einer ihrer Lesungen war. Sie schrieb Sachen, die es der Leserin, dem Leser möglich machten, über die Freiheit des Texts zugleich mit jener der Autorin ihre eigene Freiheit zu erkennen. Auch diese Kathy war in Haiti. 
R.B. Haiti feiert im Jahr 2004 seinen zweihundertsten Geburtstag. Siehst du dein Buch als ein Geburtstagsgeschenk an diese Sehnsuchtsinsel? 
E.W.D. Ob das Land feiert? Ein Geschenk an Haiti könnte es höchstens in französischer Übersetzung sein. Aber doch: ein schöner Gedanke. Das Erringen der Unabhängigkeit, am 1. Januar 1804 besiegelt, nachdem Toussaint Louverture 1803 in einer Festung bei Pontarlier starb, wohin er von Truppen Napoleons, unter welchen sich auch ein Kontingent von mehr als 600 Schweizern befand, als Kriegsgefangener gebracht worden war. Der Grossteil der Bevölkerung sehnt sich weiterhin nach Freiheit von Angst und Armut und nach dem verlorenen afrikanischen Paradies. 
R.B. Vielen Dank für Ausführungen auf Fragen.

Dies und Das

Preis an Elisabeth Wandeler-Deck

Wir gratulieren Elisabeth Wandeler-Deck zu einem halben Werkjahr (20'000.-) von der Stadt Zürich für ihr Romanprojekt «Sihlbrugg».

2004 erschien das wunderbare Buch mit dem Titel «Piraten. Haitianische Topographien» bei uns im Verlag.

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