Königsmatt

In der Königsmatt leben zwölf wohlhabende Pensionäre in morbider Vornehmheit vor sich hin: Sie werden bloss ein wenig älter und grauer von Tag zu Tag, ein wenig steifer in den Knochen und ein wenig starrer in ihrem Eigensinn. Als einmal, ein einziges Mal, das Essen zu spät auf den Tisch kommt, fällt die vordergründig festgefügte Ordnung in sich zusammen, explodieren die scheinbar zur Ruhe gekommenen Leben. Die zwölf Männer und Frauen beginnen aufzubegehren und befreien sich nach und nach aus der totalen Versorgung, der sie ausgeliefert sind.

Sie begreifen ihr bisheriges Leben als einen einzigen Alptraum, ein unwirklicher Augenblick, und sie beginnen mit der Inszenierung des Chaos. Mit zeichnerischen Mitteln zunächst. Das ornamentale und organische Wuchern erfasst Zimmer und Flure, die Flügel und Säle der ehemaligen Psychiatrie und ergiesst sich übers Land bis ins Dorf am Fusse des Hügels. Aus biografischen Nachrufen werden Hymnen ans Leben, und das groteske und blendend inszenierte Löschballett der örtlichen Feuerwehr gerät zum atemraubenden Showdown eines hervorragend erzählten Romans.
 
Die Alten haben den Platz der Wahnsinnigen von einst eingenommen. Sie sind die Parias von heute. Und weil sie nichts mehr zu verlieren haben, doch alles zu gewinnen, können sie ohne zu zögern jede Ordnung und jedes System zu Fall bringen. In Anlehnung an die Kunst Adolf Wölfflis, auch er, wie viele andere, ein ehemaliger Insasse, setzt Chiquet in «Königsmatt» das Zeichnen und Malen als ursprüngliche Form der Artikulation, als Zeichen. Mit liebevollem Humor und psychologisch raffiniert führt der Roman die Leserin, den Leser dorthin, wo sie sich bedingungslos mit der Revolte der Alten solidarisieren. Friedrich Glauser und Friedrich Dürrenmatt: Ihnen würde «Königsmatt» gefallen.

Pressestimmen und Zitate

«Als Max Fels sehe ich Sean Connery und als Elsa Hertig Faye Dunaway. Die schwierige Rolle des Doktor Battergast könnte vielleicht Marlon Brando ausfüllen.»

Ein Gespräch mit Pierre Chiquet über das Altersasyl Königsmatt und ein paar alte Menschen, die sich entscheiden, der Ordnung ein wenig Chaos entgegenzustellen.

RB Wovon handelt «Königsmatt»?
PC Zwölf Pensionäre leben im Altersasyl Königsmatt, einer dem Renaissance-Baumeister Andrea Palladio nachempfundenen Villa, in morbider Vornehmheit vor sich hin, bis ein unbedeutendes und im Grunde lächerliches Ereignis den abwechslungslosen Alltag erschüttert. Im Wartsaal des anonymen Sterbens begehren die Pensionäre auf, sie befreien sich aus der nicht selbstverschuldeten Unmündigkeit. Jetzt, im Alter, zeigen sie, dass sie noch Lust zu leben haben, dass Altern für sie nicht sterben heisst.
RB Die Protagonisten Ihres Buches sind Pensionäre, die sich verweigern. Ein Tabuthema?
PC Ich weiss nicht, ob das ein Tabuthema ist, ich weiss auch nicht, ob sie sich verweigern. Sie begreifen einfach, dass sie nichts mehr zu verlieren haben und ein neues Dasein entwerfen können. Es ist die letzte Möglichkeit. Die Königsmatt wird zu ihrem Denkmal, ein Ort ohne Schranken, ein Ort, um Träume zu suchen. Einer der Pensionäre sagt einmal: Träume sind nicht an die Geografie gebunden, ihnen kann man überall nachgehen; auch wenn das Gelände günstig sein muss, eine Gegend, wo andere schon tun, was man selber will.
RB Eine Szene geht besonders unter die Haut: Als Elsa Hertig und Max Fels miteinander ins Bett gehen. Eine der prickelndsten literarischen Sexszenen. Wie wichtig ist Ihnen diese Szene?
PC Ich habe diese Szene sehr gern: zwei alte Menschen, die sich verlieben, sich annähern, beieinander liegen, das Feuer spüren, das, was ihnen den Atem nimmt und sie ausglüht – das Gefühl, das alles hinwegfegt und alles verändert. Darüber kann man kaum sprechen. Aber vielleicht kann man darüber schreiben. Schon während des Schreibens der ersten paar Kapitel wusste ich, dass eine solche Szene auf mich zukam, dass der «Aufbruch» der Pensionäre und ihre neu erwachte Lust am Leben Erotik und Sexualität mit einschloss. Im nachhinein würde ich sagen, dass das Alter überhaupt keine Rolle gespielt hat, dass sich diese Szene in nichts von einer Liebesszene mit jüngeren Menschen unterscheidet: Die behutsame Annäherung, die erste Berührung, die Lust, all das könnte auch zwischen zwei Sechzehnjährigen spielen.
RB Auf der Seite der «Ordnung» stehen Direktor Battergast und der Pfleger Karloff. Zwei nicht unsympathische Figuren. Und trotzdem klafft zwischen ihnen und den Pensionären ein unüberbrückbarer Riss. Wie realistisch ist dieses abgründige Szenario in der heutigen Zeit?
PC Ich kann mir kein Urteil über die Zustände in den heutigen Altersheimen anmassen. Es gibt sicherlich Heime, in denen die Alten mit Pillen in die Ruhe, in einen Zustand suchthaften Stumpfsinns getrieben werden. Aber um die Anprangerung solcher Zustände geht es mir überhaupt nicht. «Königsmatt» ist einfach die Geschichte von einigen (alten) Menschen, die sich dafür entscheiden, ihr Leben zu ändern, der Ordnung ein wenig Chaos entgegenzustellen. Und obwohl Battergast und Karloff nicht verstehen, was eigentlich geschieht, und sie es in der kurzen Zeit, die ihnen bleibt, nicht schaffen, ist es doch denkbar, dass auch ihnen die Finger jucken, dass auch sie die Gelegenheit gerne ergreifen würden, den in ihren Hirnen und in ihren Händen festgerosteten Tagesablauf und vielleicht sogar ihr Leben zu verändern.
RB «Es ist nicht zu benennen, was wir tun. Nicht das Tun, die Handlung, sondern der Grund, das Weshalb dahinter.» Ein programmatischer Satz. Was ist Ihren Helden gemeinsam?
PC Im Alter entdecken sie, was man mit ihnen getan hat. Sie begreifen, dass ihr Dasein ein Alptraum gewesen ist, ein einziger unwirklicher Augenblick: Siebzig Jahre sind nötig gewesen, um endlich an etwas anderes zu denken als an Sicherheit und Wohl-stand. Ihr Denken und Handeln, frisch und unverbraucht, wird zu einer wunderbaren Vergeblichkeit, die keinem Zweck mehr unterliegt. Es geschieht wie etwas ganz und gar Selbstverständ-liches, ohne Absicht, ohne Willen, ohne Fragen, so wie auch das Gras nichts will, nichts fragt, sondern einfach sein und wachsen muss.
RB Die Pensionäre tragen die Revolte in sich. Wie kamen Sie auf die Idee, dass Zeichnen der Einstieg zu einem wildwuchernden Befreiungsexzess sein kann?
PC Zu Beginn hatte ich alle möglichen Formen von Zeichnungen vor Augen, später dann vor allem Graffitis und die Arbeiten von Adolf Wölffli: Ich verstand Zeichnen und Malen als ursprüngliche Form der Artikulation, als Zeichen. Zeichen wie jene, die auf Mauern von Schulhöfen gekritzelt werden, zwei Herzen etwa, die sich wie unter magnetischer Anziehung umschlingen, oder mit Kreide eingeschriebene Namen und Sprüche, oder Linien, die in rhythmischen Wellenbewegungen über ein längeres Stück der Mauer entlangführen und in denen eine Kindheit ihre erste Wirkung auf die Welt vollzieht, ein kaum erweckter Geist auslotet, was erreichbar und in direktestem Sinn angreifbar ist. Zeichnen also als impulsive Aktion der Selbstbehauptung.
RB Der Sprache trauen Sie also nicht viel zu. Warum schreiben Sie, wenn Zeichnen oder Musizieren tauglichere Mittel sind, sich Gehör zu verschaffen?
PC Ich habe mich während und nach dem Studium ziemlich viel mit der Sprachskepsis beschäftigt. Mir fehlt das Talent für Pinsel und Instrument. Also bleibt mir die Tastatur, das Schreiben, das ich als Trotz gegen die Unmöglichkeit der Sprache verstehe: Ich bemühe mich, dass die Grenzen der Sprache nicht die Grenzen der Welt sind.
RB Können Sie sich eine Verfilmung dieses Buches vorstellen?
PC Klar! Aber nur in einer aufwendigen Hollywood-Produktion. Der Schauplatz wäre Palladios Rotonda in der Nähe von Vicenza. Als Max Fels sehe ich Sean Connery und als Elsa Hertig Faye Dunaway. Die schwierige Rolle des Direktor Battergast könnte vielleicht Marlon Brando übernehman. Als Pfleger Karloff käme natürlich nur Boris Karloff in Frage. Leider ist er schon gestorben.
RB Und wer wäre der Wunschregisseur?
PC Daniel Schmid. Aber ich weiss nicht, ob er für Hollywood arbeitet und ob er mit meinem Casting einverstanden wäre. Und wie er die Stimmen bzw. den inneren Monolog der Pensionäre in Bilder umsetzen könnte, wäre ein ziemlicher Knackpunkt. Doch das ist ja nicht mein Problem. Daniel Schmid schafft das schon. Davon bin ich überzeugt.
RB Wie sind Ihre weiteren schriftstellerischen Pläne?
PC Ich habe mich gerade entschlossen, einen Roman zu schreiben über einen Autor, der einen unverfilmbaren Altersheim-Roman geschrieben hat und diesen einem Schweizer Regisseur vorlegt, der in Hollywood nach einem Produzenten sucht, vergeblich natürlich. Das alles im Stil von «Barton Fink» der Coen-Brüder.  Also ein Roman mit dem richtigen Barton-Fink-Feeling, literarisch umgesetzt natürlich. Das wird ein Knaller.
RB Pierre Chiquet, danke für das Gespräch.

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Pierre Chiquet: Königsmatt
Fr. 30,00
ISBN 9783908010647

Roman, 140 Seiten, gebunden