Warten auf die Demokratie

Warten auf die Demokratie

Essay von Daniel Goetsch über die Westsahara im BUND vom 21.3.2009.

1991 endete der Krieg in der Westsahara, Frieden gibt es bis heute nicht. Seit 17 Jahren teilt ein Schutzwall den Wüstenstreifen. Ebenso lange warten die Menschen auf das Referendum, das die Uno ihnen damals versprach. Der Schriftsteller Daniel Goetsch über ein Land, das nicht existiert, und eine Politik, die daran nichts ändert. 
Ein Staat im Exil: Befürworter einer unabhängigen Westsahara harren seit 17 Jahren in Algerien aus. (Keystone) 
Ein Staat im Exil: Befürworter einer unabhängigen Westsahara harren seit 17 Jahren in Algerien aus. (Keystone) 
Nicht jeder Ort bietet sich an, über das Scheitern nachzudenken. Es sollte schon ein karger, abgeschiedener Ort sein, dessen symbolische Dimension einen gleichsam anspringt, wie im Fall einer Insel, eines Berggipfels oder einer Wüste. An solchen Orten lassen sich wunderschöne Parabeln feiern. Kein Wunder, dass das Herzstück des Alten Testaments in der Wüste spielt. Nehmen wir also die Wüste. Genauer: einen Streifen Geröllwüste, der im Westen an den Atlantik grenzt, zwischen Marokko, Algerien und Mauretanien eingekeilt ist und verlegenheitshalber Westsahara genannt wird. 
Beugt man sich über diesen Ort, noch bevor man die metaphorische Brille aufsetzt, rümpft man die Nase. Auf den ersten Blick besticht der Landstrich einzig durch wüste Gleichförmigkeit. Kaum besiedelt, weite kiesgraue Ebenen, Schotterfelder, im Nordosten mehrere Hügelketten, schroffe Felsformationen, Erosionsruinen, die ein Ozean vor zehntausend Jahren zurückgelassen hat. Einige verstreute Siedlungen, unasphaltierte Pisten, aber dann: ein gigantischer Schutzwall, der sich über 2500 Kilometer mitten durch die Einöde zieht, mit modernster Überwachungstechnik ausgerüstet, von Kampftruppen gesichert. Das Drama scheint hier bereits stattgefunden zu haben. Nun gilt es, aus ihm eine Parabel zu gewinnen. Beginnen wir erst mit der Geschichte. 
Nach dem Abzug der spanischen Kolonialmacht im Jahr 1976 erhoben sowohl Marokko als auch Mauretanien Anspruch auf die Westsahara; zuvor waren dort bedeutende Phosphatvorkommen entdeckt worden. Einheimische Sahrauis widersetzten sich dem nachbarlichen Zugriff und forderten für ihr Land die Unabhängigkeit. Sie nahmen an, die Befreiung vom kolonialistischen Joch verschaffe ihnen die Freiheit, auf ihrem heimatlichen Boden die Demokratische Arabische Republik Sahara auszurufen. Ein fatales Missverständnis. 
Mauretanien zog sich aufgrund fehlender militärischer Ressourcen zwar bald zurück, die beiden verbliebenen Parteien, Marokko auf der einen, die sahrauischen Rebellen, unterstützt von Algerien, auf der anderen Seite, führten ihren blutigen Krieg aber weiter, mehr oder weniger unbeachtet von der Weltöffentlichkeit. Trotz der evidenten militärischen Überlegenheit zeichnete sich für das Königreich kein Sieg ab, weshalb es beschloss, jenen Schutzwall zu bauen – nach der Logik des Verzweifelten: Kann ich den Feind nicht besiegen, sperre ich ihn einfach aus. Die gepeinigte Bevölkerung suchte derweil Zuflucht in einer grenznahen algerischen Wüstenstadt. Bis heute leben dort über hunderttausend Sahrauis in Flüchtlingslagern, die längst wie Kleinstädte anmuten. 1991 unterzeichneten die Kriegsparteien unter dem Druck der Uno einen Waffenstillstand. Sie einigten sich darauf, ein Referendum abzuhalten, das über das Schicksal der Westsahara entscheiden sollte. So weit, so gut, so demokratisch. 
Seit 17 Jahren nun warten die vertriebenen Sahrauis in ihrem Wüstenexil darauf, dass sie endlich über den Status ihrer Heimat abstimmen dürfen. Immer wieder entbrennt ein Streit darüber, wer überhaupt wahlberechtigt ist. Jedes Mal werden die mühsam erstellten Wählerregister von der einen oder der anderen Konfliktpartei zurückgewiesen. Marokko wird überdies vorgeworfen, ganze Sippschaften als potenzielle Wähler in die Westsahara eingeschleust zu haben, um sich einen günstigen Ausgang des Referendums zu sichern. Trotz mehreren diplomatischen Bemühungen, mehreren Uno-Resolutionen und dem wiederholten Versprechen seitens der Konfliktparteien, sich dem künftigen Volksentscheid zu beugen, kommt der Prozess nicht vom Fleck. Die Volksbefragung, gewissermassen die Urszene der Demokratie, findet nicht statt. 
Uns, denen die Demokratie so selbstverständlich ist wie Trinkwasser oder Autobahnen, mag es überraschen. Wie ist es möglich, dass ein vernünftiges Verfahren wie die Volksabstimmung nicht gelingen will? Jede Erklärung, die dafür einzig die Konfliktparteien verantwortlich macht, greift zu kurz. Schliesslich haben sie getan, worum sie der Westen, vermittels der Uno, nachdrücklich bat. Sie haben das Bekenntnis zur Demokratie abgelegt, haben sich bekehren lassen. Aber genau darin zeigt sich die Naivität des Westens, die wohl seiner moralischen Selbstüberschätzung geschuldet ist. 
Die stolzen Demokratien Europas vergessen allzu gerne die historischen Bedingungen ihrer eigenen Staatsform. Wohlverstanden: nicht die viel gepriesene Attische Demokratie der Antike, sondern die Erschütterungen der vergangenen drei Jahrhunderte, die Religionskriege, Bürgerkriege, Weltkriege, als deren unhintergehbares Korrektiv die heutigen demokratischen Verfassungen verstanden werden müssen. Unsere Demokratien sind, wenn wir ehrlich sind, weniger aus dem Geist der klassischen Philosophie geboren als aus heftigen Glaubens- und Verteilungskämpfen. 
Das westliche Selbstverständnis kann mit diesem Befund schlecht leben. Wie es seiner platonisch-christlichen Prägung entspricht, erhebt es die Demokratie zu einem universellen Ideal und trägt dieses in die Welt hinaus, gleich einer Heilsverkündung. Es verwechselt die Demokratie mit einer Religion, wobei, das gilt es anzumerken, als dunkle Komplementärreligion der Kapitalismus dazukommt. So wie Carl Schmitt jeden politischen Begriff im Kern für ein säkularisiertes theologisches Konzept hielt, meinte Walter Benjamin im Kapitalismus alle Merkmale einer Religion zu erkennen, welche allerdings im Gegensatz zum Christentum nicht von der Hoffnung auf Gnade oder Erlösung, sondern von der ständigen Anhäufung von Schulden angetrieben wird. So gesehen, ist es mit der Säkularisierung des Westens nicht weit her. 
Was bleibt von der Demokratie, wenn man ihren mythischen Grund wegbricht? Ein Verfahren, welches das Volk dazu berechtigt, politische Entscheide zu fällen – nicht mehr und nicht weniger. Wenn von Demokratie geredet wird, ist noch nichts über gesellschaftliche Verhältnisse gesagt. Aus Demokratie folgt unmittelbar keine soziale Wirklichkeit, vielmehr nur der in Normen gekleidete Wunsch, ebenjene mitgestalten zu dürfen. Wir verbringen die allermeiste Zeit unseres Lebens ausserhalb der Demokratie. In der Fülle von Alltagssituationen, durch die wir hetzen und die wir mal besser, mal schlechter meistern, treffen wir die Demokratie nie an, nicht am Arbeitsplatz, nicht im Supermarkt, nicht auf dem Fussballfeld, nicht im Fernsehen, nicht am Familientisch. 
Nur in ausgewählten Augenblicken sind wir dazu aufgerufen, jene politischen Rechte wahrzunehmen, die uns gemäss der Verfassung zustehen. Während sich in der Schweiz das Volk auch zu Sachfragen äussern kann, beschränken sich die Volksrechte in den anderen Demokratien fast ausschliesslich auf die Wahlteilnahme. Wir sollen aus einer Reihe von Parteien und Politikern jene auswählen, von denen wir annehmen, dass sie unsere Anliegen vertreten. Nun sind die Parteien systembedingt erst mal mit sich selbst beschäftigt, sie verteilen Ämter, beraten über Strategien, profilieren sich in den Medien, und vor allem feilschen sie untereinander um die Macht. Weil diese Selbstbezüglichkeit mit der Zeit offenkundig wird, steigt als Gegenzauber der Populismus auf, schlimmstenfalls in der Form eines charismatischen Demagogen, der das Machtspiel der politischen Klasse als solches entlarvt, als Alternative jedoch nur sich selbst anbietet, letztlich alle Macht für sich beansprucht. Damit treten wir in jenes quasidemokratische Zeitalter ein, das Colin Crouch in seinem kürzlich erschienenen Buch «Postdemokratie» beschwört. Er tut dies ausdrücklich mit der Hoffnung, es möge nicht so weit kommen. 
Zurück zur Westsahara. Stellen wir uns einen vierzigjährigen Sahraui vor, der in einem Flüchtlingslager in der algerischen Wüste lebt und sich fragt, warum er noch immer nicht über die Zukunft seiner Heimat bestimmen darf, obwohl ihm der Westen genau das versprochen hat. Er wird sich vielleicht erneut die Rede von den Segnungen der Demokratie anhören, aber er wird kein Wort mehr glauben. 
Die Westsahara, dieser symbolische Ort, könnte auch uns meinen. Wir sässen also da, in einer wüsten Gegend, gepeinigt von Ungewissheiten und Zukunftsängsten, und warteten auf die versprochene Abstimmung, mit der wir über unser Schicksal entscheiden dürfen. Nach einer Weile bemerken wir, dass das, was als Glücksverheissung daherkam und unserer Vernunft schmeichelte, nämlich die Demokratie, sich als ein nur schlecht verschleiertes Machtspiel entpuppt. Wir drohen den Glauben an die Demokratie zu verlieren, gerade weil wir einst so vorbehaltlos daran glaubten. Wir nähern uns der Zone der Postdemokratie. 
Legen wir die metaphorische Brille ab und blicken nochmals auf die Westsahara als einen authentischen Schauplatz des Scheiterns. Inzwischen hat Marokko das besetzte Gebiet faktisch annektiert. Auf der Wetterkarte im marokkanischen Fernsehen ist die Westsahara längst dem Königreich angegliedert worden. Die Infrastruktur wurde ausgebaut, um die Herzen der Einheimischen zu gewinnen, die Lizenzen für den Phosphatabbau wurden verschachert. Marokko, als die stärkere und schlauere Partei, schafft vollendete Tatsachen, und der Westen sieht verschämt zu. Doch vielleicht ist genau dies die vornehmste Tugend des Westens: mit dem Scheitern eines Ideals genauso gut umgehen zu können wie mit vollendeten Tatsachen. (Der Bund) 

Dies und Das

Herz aus Sand auf Chinesisch

Jetzt können viele Millionen Leserinnen und Leser mehr den grossartigen Roman Herz aus Sand von Daniel Goetsch lesen. Eben ist die chinesische Ausgabe im Shanghai Translation Publishing House erschienen. Im Rahmen eines Übersetzungsförderungsprogrammes der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.

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Lesetipp «Herz aus Sand» in der FAZ-online vom 1.10.2009

Hier scheitern ein Mann und eine Mission: Frank ist Mitarbeiter der Vereinten Nationen, die seit vielen Jahren (vergeblich) versuchen, den Menschen in der Westsahara Frieden und Sicherheit zu garantieren. Während die anderen Beobachter sich in der Wüstenhitze mit dem Verfassen von Berichten und Dattelschnaps begnügen, wird Frank durch das Auftauchen eines idealistischen Berliner Architekten auch zum Blick auf sein eigenes Leben angeregt. Und auch das sieht, vor allem wegen einer gescheiterten Liebesbeziehung, nicht rosig aus. - Wie der Autor Daniel Goetsch den großen politischen Zusammenhang (die UN-Mission) mit dem persönlichen Leben des Protagonisten verknüpft, wie er das alltägliche Leben im Wüstencamp und die verflossenen Illusionen der Vergangenheit schildert, ist bewundernswert und mitreißend. Damit hat er es auch auf die "Hotlist 2009" für den Publikumspreis der kleineren, unabhängigen Verlage geschafft. 

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Ein Gespräch mit Daniel Goetsch über X

Über Vorstadtjugend, eine Reise an «Matrix» vorbei und den Schriftsteller als Atmosphärenzauberer.

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Daniel Goetsch

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